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Der Betrachter
Bonsai ist die Kunst des Sichtbaren. Das ist eine Feststellung, wie sie in der allgemeinen Kunsttheorie für die Malerei und Bildhauerei gebräuchlich ist. Diese scheinbar triviale Feststellung mag für den Westen stimmen. In Asien würde man eher genau das Gegenteil behaupten: Bonsai ist die Kunst des Unsichtbaren. Der Bonsai als Kunstwerk ist keine total geöffnete Plattheit, sondern er gleicht einem vierzeiligen Vers, dessen letzte Zeile fehlt . Bonsai ist also nicht die Kunst des Sichtbaren, sondern die Kunst des Sichtbarmachens, wobei der Vorgang beim Betrachter abläuft, der im Bonsai etwas sieht, was gar nicht da ist.
Vom Standpunkt des Gestalters ist die Bonsaikunst die Kunst des Sichtbarmachens von etwas, das vorher nicht vorhanden war, dem Unbekannten angehörte, das vom Intellekt nicht verstanden wird. Der Betrachter hat sich mit dem Sichtbaren und dem Fühlbaren zu befassen und nicht damit, was der Gestalter eigentlich gemacht hat. Es ist nicht hilfreich für das Erfassen eines Bonsai, wenn man allzu viel über das Gestalten an sich und den Gestalter weiß. Der wissende Betrachter neigt dazu, jeden Baum sofort zu zerpflücken, sofort damit zu beginnen, den Bonsai zu kritisieren. Er ist voreingenommen und lässt den Baum gar nicht auf sich zukommen, zu sich sprechen. Bonsaigestalter sind oft die schlechtesten Kritiker. Sie neigen dazu, dauernd darüber nachzudenken, was sie selbst getan hätten, wie sie selbst den Baum verbessern könnten, anstatt den Baum, so wie er ist, auf sich einwirken zu lassen. Deshalb ist auch das Bewerten von Bäumen anhand von ‚Bewertungsrichtlinien’ problematisch. Anstatt den Bonsai als Kunstwerk gefühlsmäßig auf sich einwirken zu lassen und dann je nach Wirkung Punkte zu vergeben, wird der Baum verstandesmäßig zerpflückt. Im besten Fall kann so Kunsthandwerk bewertet werden, im schlechtesten Fall fällt ein Baum gerade wegen einer tollen Ausstrahlung durch, weil sie mit unkonventionellen Mitteln erreicht wurde. Es wird nicht bewertet wie der Bonsai wirkt, sondern wie die Wirkung erzielt wurde. So kann die Vewertung wohl den Tod der Baonsikunst bedeuten und bloß versuchen den Status Quo aufrecht zhu erhalten.
Der voreingenommen Betrachter kommt über das Gegenständliche nicht hinaus, dadurch bleibt ihm das Künstlerische verschlossen. Er will verstehen, wo es nichts zu verstehen, sondern nur aufzunehmen gibt. Verstehen erfolgt mit der linken Gehirnhälfte, die ein Kunstwerk aber niemals wirklich „verstehen“ kann, weil das kein intellektueller Vorgang ist. Der Verstand ist gar nicht aufgerufen. Für den Betrachter, der rein von seinem Wissen, von seinem Intellekt ausgeht, ist es eine der schmählichsten Empfindungen, auf etwas zu stoßen, das man nicht angreifen, nicht verstehen kann, und das man in die sonst durchaus verständliche reale Welt der herkömmlichen Bonsaigestaltungsregeln nicht einordnen kann. Man ist auf einen ungewohnten, unterlegenen Platz gestellt und reagiert mit einem überheblichen, verstandesmäßigen Zerpflücken des Bonsai; er lehnt den Bonsai ab, weil er seine Erniedrigung ablehnt. Das erklärt, warum Bonsai, die sich nicht den bekannten Regeln anpassen, abgelehnt werden, obwohl sie künstlerisch bedeutend wertvoller sind als die klischeehaft genormten Standardbäume.
Schopenhauer sagt, man müsse sich einem Kunstwerk gegenüber verhalten, wie man sich einer hochgestellten Persönlichkeit gegenüber verhält. Das heißt, man hat bescheiden abzuwarten, bis dass man der Mitteilung für würdig befunden ist. Die Kräfte, die der Künstler dem Werk gab, offenbaren sich dem Betrachter, der sich aller Spannungen entledigt hat und den Willen beiseite lässt. Nach modernen Erkenntnissen der Gehirnforschung kann man auch sagen, dass der entspannte Betrachter seine linke Gehirnhälfte (seinen Willen) zur Ruhe schickt und mit der rechten Hälfte das Kunstwerk aufnimmt, wie es ist, ohne es gleich mit Worten zu kritisieren.
Für den Betrachter eines Bonsai ist es nicht dienlich, wenn er davor steht mit dem tiefen Willen, in den Baum einzudringen, ihn zu verstehen. Es gelingt viel besser, wenn er ihn einfach wirken lässt, ohne Vorbedingungen. Der Betrachter müsste beiläufig empfinden, aus ihm selbst seien die Formen, die Farben gekommen, er selbst hätte diesen Bonsai gestaltet
Der naive Betrachter ist im Vorteil. Er bringt keine übermäßige Vorbelastung durch gedankliche Reflexionen mit. Seine Vorurteile liegen nicht tief. Er stellt weniger Forderungen, ist mehr mit Schauen beschäftigt. Er lässt das, was er verstandesmäßig nicht erfassen kann, eher auf sich beruhen. Der naive Betrachter wird aber auch feststellen, dass die Bonsai nicht so aussehen, wie die wirklichen Bäume, die er täglich in der Natur sieht. Er wird fragen, warum das so ist. Nun, es handelt sich eben nicht um Nachahmungen von natürlichen Bäumen, sondern um Idealisierungen von natürlichen Bäumen. Das ist auch eine Fragen des Geschmacks, der sich ändern kann. Momentan ist der japanische Geschmack führend. Das kann sich auch wieder ändern. Der naive Betrachter ist in derselben Lage wie ein Besucher von einem fremden Stern, der Modemagazine betrachtet und die Frage stellt, warum die Mannequins nicht wie „wirkliche“ Frauen aussehen. Die „Meinung“ des allgemeinen Betrachters oder „der gesunde Menschenverstand“ sind allerdings beide verdächtig, von der jeweils herrschenden Durchschnittlichkeit bestimmt zu sein; ein einfacher, naiver Geschmack ist eben auch häufig ein vulgärer Geschmack.
Der Betrachter darf aber nicht zu naiv sein, sonst versteht er zuviel nicht. Der naive Betrachter kann beim erfahrenen Bonsaifreund aber oft auch Verwunderung hervorrufen. So gibt es immer wieder Leute, die sich darüber erregen, dass ein „toter“ Baum ausgestellt wird, wenn Laubbäume im Winter ohne Laub gezeigt werden. Auch sehr viel totes Holz an einem Bonsai sehen viele Betrachter als ein deutliches Zeichen, dass der Baum bereits tot ist, oder bald stirbt. Großgewachsene Bonsai werden oft gar nicht beachtet, weil sie ja gar nicht „echte“ Bonsai, also möglichst kleine Bäume sind. Ein Bonsai ist eben nicht einfach ein offenes Buch, das sich jedem erschließt, der hinsieht. Er besteht aus vielen geheimen Botschaften, die in der Kunsttheorie Metaphern genannt werden. Wer diese Botschaften nicht kennt, wird bloß einen kleinen Baum in der Schale sehen. Wer z.B. die Botschaft „Triumph im Überlebenskampf“ kennt, der wird einen Bonsai mit sehr viel totem Holz und einer ganz dünnen Lebenslinie, aber sehr gesundem Laub als gelungen bezeichnen. Der Laie, der die Botschaft nicht kennt, wird fragen, warum ein Baum ausgestellt wird, der wohl schon tot ist, oder auf jeden Fall bald stirbt und eine so kranke Ausstrahlung hat. Wer die für den Asiaten selbstverständliche Verehrung des Alters nicht aufgenommen hat, der wird sich eher für knackige Laubbäume und weniger für uralte Koniferen begeistern.
Dem erfahrenen Bonsailiebhaber ist es immer wieder ein Rätsel, warum Laien vor einem großartigen Bonsai stehen und ihn gar nicht gut finden. Man meint ja, dass der Baum an sich gut ist und das eigentlich jeder sehen müsste, auch ein Laie. Das stimmt aber nicht. Der Baum an sich ist nicht schön oder gut, er sendet nur Signale. Der Empfänger muss gelernt haben, die Signale wahrzunehmen, zu entschlüsseln und den Baum zu bewerten. Das setzt ein langwierige Schulung voraus. Nur die Interpretation von Signalen führt zur Information, zur Wertung, ob man einen guten oder schlechten Bonsai vor sich hat. Die Information liegt also nicht im Baum, sondern im Gehirn des Betrachters. Man sagt nicht umsonst „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“. Die Art und Weise, wie ein Betrachter einen Bonsai sieht hängt unmittelbar mit den Lebenserfahrungen, mit dem gesammelten Wissen des Betrachters zusammen.
Viele Menschen haben Probleme mit der „übermäßigen“ Verwendung von totem Holz in der Bonsaikunst. Das kommt zum einen daher, dass diese Menschen eben noch nicht genügend Bäume mit sehr viel totem Holz gesehen haben. Man kann diese Erfahrungen in der Natur machen, aber nur in Extremlagen, wie im Hochgebirge oder am Rande der Wüsten. Ein Bergbauer aus Tirol, der noch nie in seinem Leben einen Bonsai gesehen hatte, fragte angesichts einer Bonsaiausstellung nicht, wie viel die Bäume kosten, oder wie alt sie sind. Er fragte „wie kann es sein, dass der Blitz in einen so kleinen Baum einschlug?“. Der Bauer hat eben die Erfahrung, dass entlang der Baumgrenze fast jeder Baum einmal vom Blitz getroffen wird – er stellt auf Grund seiner Lebenserfahrung die Verwendung von sehr viel totem Holz in der Bonsaigestaltung nicht in Frage.
Man kann aber immer wieder feststellen, dass auch Menschen, die sehr wohl wissen, dass es in Extremlagen solche Bäume gibt, die Extremgestaltungen ablehnen. Der Grund ist darin zu finden, dass der Betrachter erwartet, einen „idealen“ Baum dargestellt zu sehen. Ein idealer Baum ist ein Durchschnittlicher, aber besonders schöner Baum, nie ein extremer. Für den Künstler ist das schwer zu verstehen, denn er ist so gelangweilt von den normalen Bäumen, dass er die extremen als ideal ansieht. Der Bonsai entfernt sich soweit vom natürlichen Ideal, dass er extrem abstrakt wird und für den durchschnittlichen Betrachter nicht mehr akzeptabel.
Dem Betrachter eines Bonsai kann man folgenden Rat geben: Er soll sich vom Titel, der Beschreibung, der Stilart völlig lösen und einfach den Baum als solchen auf sich einwirken lassen. Alles, was man in Worten fassen kann, hat beim Betrachten keinen Platz, nur Gefühle sprechen jetzt. Der Betrachter soll schauen und nicht sehen. Unter schauen ist das nicht-zweckgebundene Betrachten eines Bonsai zu verstehen, ohne irgendwelche Forderungen. Das dagegen stehende Sehen ist interessiert, rational, zweckgebunden. Man kann auch sagen, dass das Schauen in der rechten Gehirnhälfte beheimatet ist, während das Sehen aus der linken kommt. Wer so vorgeht, der vergisst alle Regeln, genau so wie der Künstler diese vergessen hat, als er den Bonsai geschaffen hat. Der Bonsai sei ein Fest für das Auge und nicht für den Verstand.
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