This is the German version of Styles and Forms. It was translated by Anja Meyer in 2001. Eventually I will have to write a new German version myself.
Stilarten und Formen
Der überarbeitete Versuch einer Klassifikation von Walter Pall
(Aus dem englischen übersetzt von Anja Meyer)
Wenn wir uns die traditionellen Stile der Kunstgeschichte ansehen, so gibt es dort zum Beispiel den Stil der Romanik, der Gotik, der Renaissance, des Barock und einer Anzahl moderner Stile. In all diesen Stilarten wurden unter anderem Kirchen, öffentliche Bauten oder Wohnhäuser erstellt, Bilder gemalt oder Skulpturen geschaffen. Alle diese Werke können eindeutig einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden, aber sie wurden in unterschiedlichen Stilen gestaltet. Es gibt keinen ‚Kirchenstil’. Wir sprechen von Stilen um die gemeinsamen Karakteristika aller Kunstwerke einer Epoche zu benennen. Es ist eine abstrakte Bezeichnung, die bei der Klassifikation von Kunst helfen soll.
Stil bedeutet die ‚Annäherung’ an ein Thema und ist keine Kategorie. In der Malerei gibt es keinen ‚Stil des aufrecht stehenden Mannes’ oder ‚Stil der Frau auf einem Stuhl’. Wenn jemand vor einem Bild steht und fragt: „Welcher Stil ist das?“ würde er niemals ‚sitzender Mann’ als Antwort bekommen. Das sind Kategorien oder Formen oder Genres, die in unzähligen (meist gut dokumentierten und beschriebenen) Stilen gemalt werden und die auch variieren können, aber das Thema wird immer durch seine Form zu erkennen sein.
Bei Bonsai ist das nicht anders, aber die übliche Terminologie mischt die Begriffe Stil und Form. Ein ‚frei aufrechter’ Bonsai kann auf viele verschiedene Weisen gestaltet werden, die sich erheblich unterscheiden, aber es wird immer die gleiche Form erkannt werden. Wir haben einen Namen für die Form, aber nicht für die verschiedenen Stile, weil die allgemein zugrunde liegende Meinung annimmt, dass nur ein Stil existiert, nämlich der klassische. Der Gebrauch der Worte Stil und Form variiert von Publikation zu Publikation. Meist hat es den Anschein, diese Worte würden als Synonyme genutzt.
Ein Stil in der Bonsaiwelt ist im allgemeinen nicht das gleiche wie ein Stil in der Kunstwelt. Und nur weil wir alle die Worte so benutzen muss das nicht notwendigerweise auch richtig sein. Die Ursprünge dafür können aus den Übersetzungen vom japanischen ins englische oder in andere Sprachen stammen. Es könnte auch von den frühen Autoren unserer Bonsaibücher stammen, die zwar über Bonsai, aber nicht allzuviel über Kunstgeschichte Bescheid wussten, ähnlich den ersten Übersetzern. Es kann aber auch sein, dass die Japaner sich nicht so sehr um die Terminologie kümmern, wie wir das tun.
In dem Buch ‚Classic Bonsai of Japan’1 werden die Worte Stil und Form manchmal als Synonyme benutzt. In China wird der Begriff ‚Schule’ benutzt um die unterschiedlichen Stile herauszustellen. Das Wort ‚Schule’ kann in diesem Zusammenhang wie der Begriff ‚Stil’ gebraucht werden, wie es in diesem Artikel dargelegt wird. Alan Walker2 schlug vor den Begriff ‚Designschule’ zu gebrauchen, hergeleitet aus dem Ikebana, dass sich ja auch über die ganze Welt verteilt und ausserhalb Japans bestimmte Stile entwickelt hat, die über das traditionelle Ikebana hinausgehend, deutlich erkennbar sind und bereits benannt wurden. Stile entwickeln sich und gelangen von einer Frühform zu einer Hochform, um in einer späten Form zu enden, bei der die Stilelemente übertrieben werden. Warum sollte das bei Bonsai anders sein als bei anderen Kunstformen?
Wer auch immer einen Bonsai ansieht, will ihn irgendwie bewerten. Traditionell möchten wir ihn einem bestimmten Stil zuordnen. Mit vielen Bonsai haben wir da aber Schwierigkeiten. In den letzten 10 Jahren haben diese Schwierigkeiten mit dem Aufkommen neuer Stile oder Variationen von ‚Stilen’ zugenommen. Leute aus unterschiedlichen Nationen beschäftigen sich mit der Bonsaikunst und bringen neue Details und sogar neue ‚Stile’ ein, für die wir bis jetzt noch nicht einmal Namen haben. Die Bonsaikunst hat sich über die ganze Welt verteilt und neue Baumarten werden mit einbezogen, die bis jetzt noch keine Tradition haben. Oft genug stehen wir vor einem Bonsai und wir finden es schwierig oder sogar unmöglich ihn einem ‚Stil’ zuzuordnen. Ist das nun ein schlechter Bonsai oder ist es unser Klassifikationssystem, das schlecht ist und einer Überarbeitung bedarf.
Man muss zwischen Stilen und Formen differenzieren. Beide werden gemeinhin so benutzt, als wären sie ein und dasselbe.
Die Form wird bestimmt durch das, was beim ersten Blick des Betrachters am offensichtlichsten ist. Dies ist nicht anders als bei den traditionellen japanischen Kategorien. Anders ist in dem hier vorgeschlagenen System, dass ein Bonsai zur gleichen Zeit aus mehreren Formen bestehen kann. So neu ist das gar nicht - eigentlich war es schon immer so, aber es wurde in der traditionellen Klassifikation niemals so klar dargestellt. Formen können in den folgenden Kategorien unterschieden werden:
1.Je nach Stammverlauf: Streng aufrecht, streng aufrechter Besen (eine Unterform von streng aufrecht), frei aufrecht, freier Besen, geneigt, Kaskade (voll oder semi)
2.Je nach Anzahl der Stämme: Einzelstamm, Mehrfachstamm oder Gruppe
3. Je nach Richtung der Krone: Einseitig (bis jetzt windgepeitscht), Äste zu beiden Seiten.
4. Je nach Pflanzmedium: In Schalen oder auf einem Stein, auf einer Steinplatte, auf oder über einen Felsen, Wurzeln in der Erde der Schale
5. Je nach Jahreszeitlichem Aussehen: Winterbaum (ohne Laub) oder Sommerbaum, früchtetragend oder blühend
6. Je nach dem Verhältnis Stammdurchmesser zu Höhe: Dünne Stämme (bis jetzt Literaten genannt), normale Stämme oder dicke Stämme
7. Je nach Menge von Todholz in der Gestaltung: Viel Todholz (als Treibholzstil bekannt), wenig oder kein Todholz
Es gibt sicher noch mehr Formkategorien, die noch entdeckt und definiert werden müssen. Charles Ceronio nahm die Mühe auf sich, alle denkbaren Formen zu sammeln und akribisch zu beschreiben.3 Er hat auch so einige angesprochen, die bis jetzt noch gar nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch der Bonsaianer gehören.
Dies bedeutet nicht, dass die altbekannten japanischen Formen oder ‚Stile’ überholt sind. Sie sind alle in diesem System enthalten. Der Unterschied besteht nur aus einer logischeren Ordnung und es werden einige Formen hinzugefügt. Es ist natürlich in Ordnung, wenn man weiter die traditionellen japanischen Begriffe nutzt, aber es ist nicht nötig und macht die Einteilung nicht klarer.
Jeder ernsthafte Bonsaienthusiast ist sich der Regeln für die Hauptformen bewusst. Manchmal kommt es zu Irritationen, wenn diese Regeln nicht beachtetwerden und wenn sie bei unterschiedlichen Autoren unterschiedlich zitiert werden. Die Regeln, nach denen man einen Bonsai zu einer bestimmten Form gestaltet, ändern sich je nach dem gewählten Stil. Wenn jemand sich also dafür entscheidet, im klassischen Stil zu arbeiten und eine frei aufrechte Konifere gestalten möchte, so gelten die bekannten japanischen Regeln. Wenn jemand im zeitgenössischen Stil arbeiten möchte, sind die Regeln anders, aber bis jetzt noch nicht klar definiert. Das ist es, worauf dieses ganze System hinausläuft: Die Regeln für die Gestaltung einer Form hängen vom gewählten übergeordneten Stil ab!
In ‚Classic Bonsai of Japan’4 wird eine klare Unterscheidung gemacht zwischen dem sogenannten ‚visuellen’ und ‚abstrakten’ Zugang zu Bonsai. Der sichtbare Zugang setzt die Betonung auf die objektive Erscheinung und Form des Bonsai. Diese Sichtweise wurde von den Japanern und der ganzen westlichen Welt bevorzugt. Die Art in der ein Baum wächst und die Weise in der er zu einem Kunstwerk gestaltet wurde - oder in ästhetischen Begriffen ausgedrückt, die Form und das Design sind die wichtigsten Vermittler bei der visuellen Annäherung. Andererseits gibt es den abstrakten5 Zugang für das Verständnis der Miniaturbäume und Landschaften, der ein Beharren auf Form und Aussehen heftig als übertriebenes Vorurteil zurückweist, während man an den Objekten selbst Freude hat. Es hat weniger mit der physischen Erscheinung des Bonsai zu tun, als viel mehr mit seinem Ausdruck. Wenn man über den visuellen und abstrakten Zugang redet, dann bedeutet es nicht mehr und nicht weniger als die Beschreibung unterschiedlicher Betonungen in dem Verständnis und diese zwei schliessen sich nicht unbedingt gegenseitig aus. Dieser Ansatz, beschrieben in einer offiziellen Veröffentlichung der Nippon Bonsai Association ist mehr oder weniger das gleiche, wie der Unterschied zwischen Form und Stil, wie ich ihn hier beschrieben habe. Die Form ist der deutlich sichtbare Teil eines Bonsai, der Stil ist eine darüberliegende Philosophie, der Ausdruck des Baumes. Der Stil, der Ausdruck kommt an erster Stelle, dann kommt die Form.
Hier sind vier der Stilkategorien (aber es gibt noch mehr bisher undefinierte):
a)Klassisch und Zeitgenössisch (Kontemporär)
Klassisch: Dies ist der Stil, der normalerweise mit ‚gutem’ Bonsai gleichgesetzt wird. Das sind Bäume, die den bekannten japanischen Regeln entsprechen. Sie sind in der Regel etwas expressionistisch und abstrakt. Das heisst, der Gestalter versucht nicht den Eindruck eines realen Baumes zu zeigen, sondern er hat eine Vorstellung eines idealen Baumes, die er ausdrücken möchte. Dies geschieht besonders bei Koniferen. Laubbäume sind eher naturalistisch und weniger expressionistisch dargestellt. Ein guter klassischer Künstler ist daran zu erkennen, dass er die klassischen Formen gebraucht (kopiert) und die klassischen Regeln so weit wie möglich befolgt.
Yuji Yoshimura hat einen sehr guten historischen Überblick über die Entwicklung der Bonsaikunst gegeben.6 Nach seiner Aussage begann die Entwicklung des klassischen Bonsai etwa um 1600 mit einer frühen Periode, die bis 1800 andauerte. Die mittlere klassische Periode von 1800 bis 1950 brachte bedeutende Verbesserungen. Die späte klassische Periode dauert von 1950 bis heute an. In dieser Zeit haben die Verbesserungen neue Höhen erreicht. Yoshimura siedelt die meisten Bonsai, die nicht in Japan gestaltet oder gepflegt wurden, ausserhalb der klassischen Gruppe an, entweder im neo-klassischen oder im zeitgenössischen Stil.
Es gibt den frühen klassischen Bonsaistil, den es nur in den Formen gibt, die vor dem 19. Jahrhundert akzeptiert wurden: Streng aufrecht, frei aufrecht, geneigt, Kaskade. Einzelstamm, Mehrfachstamm, Gruppe und Felsenpflanzung. Im 19. Jahrhundert wurde die Literatenform in Japan eingeführt. Im 20. Jahrhundert wurde die strenge Besenform entwickelt.
Yoshimura sieht die meisten Bonsai, die in irgendeiner klassischen Art ausserhalb Japans gestaltet werden, als im neo-klassischen Stil gemacht. Es sind ‚Bonsai, die basierend auf der japanischen klassischen Sensibilität und den Grundsätzen des klassischen Bonsai gestaltet wurden, aber darüber hinaus über das Gerüst aus klassischem Bonsai der Vergangenheit gehen, und durch die Subjektivität des einzelnen gestaltet wurden.’
Der klassische Stil wurde im Westen seit ein paar Jahrzehnten immer wiederholt. Nichts wurde wirklich hinzugefügt. Die Formen wurden oft zum Klischee und eintönig (Stereotyp). Die klassischen Regeln, die eigentlich nur Richtlinien sein sollten, wurden oft allzu genau befolgt und sogar missverstanden. Es wurde allgemeine Praxis, einen Laubbaum wie eine Konifere zu gestalten. Das ging bisher sogar so weit, dass ein naturalistischer Laubbaum für die meisten westlichen Bonsaienthusiasten merkwürdigaussieht. Sie sind so sehr an die hochgradig abstrakten klassischen Bäume gewöhnt, dass ein natürlich aussehender Bonsai fremd erscheint. Vielen westlichen Bonsaienthusiasten ist nicht klar, dass ein grosser Prozentsatz der Laubbäume in Japan nicht wie Koniferen gestaltet werden, sondern fast im naturalistischen Stil. Die ‚typischen’ Bäume, die exportiert werden, sind normalerweise auf eine stereotype Art gestaltet. Dies ist so, weil sie dadurch billiger zu entwickeln sind und weil das westliche Publikum sie so sehen möchte. Ebenso werden Koniferen im Westen oft mit einen spitzen Wipfel gestaltet, was manchmal durchaus passend ist, aber öfter aus einem allgemeinen Missverständnis der klassischen Regeln kommt. Die meisten guten klassischen Bonsai in Japan haben runde Wipfel.
Der Begriff neo-klassisch wird hier meist auf eine negative Weise benutzt und bezeichnet einen Bonsai, der zu einem Klischee gestaltet ist, als eine Kopie einer Kopie einer Kopie. Und die Qualität nimmt mit jedem Kopiervorgang ab. Die Bonsai sehen alle irgendwie gleich aus, wie mit einer Keksform oder Schablone ausgestochen – „Cookie-Cutter-Bonsai“(„Keksformen-Bonsai“)
Seit kurzem gibt es in Japan eine Tendenz, Laubbäume in zu kleine Schalen zu setzen. Besonders enorme Dreispitzahorne sind in unglaublichflachen Schalen zu sehen. Das gleiche Phänomen ist bei der Übertreibung dieser kraftvollen Wurzelansätze zu sehen. Es gibt einige Dreispitzahorne mit einem Wurzelansatz, der die Grenze zum Grotesken überschritten hat. Das sind Entwicklungen ins Extreme. Eine flachere Schale und ein stärkerer Wurzelansatz machen einen Bonsai viel kraftvoller. Das ist es, was hier gezeigt werden soll. Aber es gibt einen optimalen Zustand und alles darüber hinaus wird wieder schlechter. Es ist typisch für einen Kunststil in seiner späten Periode, ins Extrem zu gehen. Die Debatte ist offen, ob diese grotesken Dreispitze neo-klassisch oder nur sehr späte Klassiker sind.
Die Klassik ist eine Periode in der Kunstgeschichte, in der ein Höhepunkt an künstlerischer Entwicklung erreicht wurde. Eine Periode, in der nur wiederholt wird, was in einer klassischen Periode bereits einmal entwickelt wurde, ohne dass neue Aspekte hinzukommen, wird in der Kunstgeschichte Klassizismus oder Neo-Klassisk genannt. Man könnte sich Yoshimura anschliessen und es so sehen, dass die Mehrheit der westlichen Gestalter die Bonsaikunst im grossen und ganzen neo-klassisch betreiben. Dies ist natürlich ein irgendwie negativer Begriff, der aber zugleich das Gefühl einiger Künstler ausdrückt, die mehr und mehr allergisch auf die klassische Erscheinung reagieren. Einige fangen an, klassische Bonsai als altmodisch zu betrachten. Das ist in einer Zeit der Veränderung normal. Diese Einstellung ist notwendig um damit zu beginnen, Traditionen zu hinterfragen und um sich daran zu wagen etwas ganz und gar neues zu machen. Es bedeutet aber in keinster Weise, dass klassische Bonsai überholt sind. Klassisch im Sinne von erprobten, durch die Zeit honorierten Werten, entwickelten Traditionen oder von Erbgut, auf das man schauen kann, bedeutet dem weisen avantgardistischen Künstler immer noch etwas.
Es muss hier erwähnt werden, dass die chinesischen Bäume im allgemeinen nicht in diese als klassisch bezeichnete Kategorie fallen, da dies eine bestimmte japanische Klassik ist. Die Penjing haben ihre eigene klassische Erscheinung, die zur Zeit in mehr und mehr zeitgenössischen westlichen Bonsai wieder aufgenommen wird. Die klassischen Penjing sind viel naturalistischer, impressionistisch und meist auch transzendent. Interessanterweise sollte man hier anmerken, dass die modernen, zeitgenössischen Bonsai in China und anderen asiatischen Ländern anscheinend mehr in Anlehnung an den klassischen japanischen Stil gestaltet werden. Das stimmt mit Sicherheit in Taiwan, wo man ungewöhnliche Ficusbonsai sehen kann, die enormen Kiefern ähnlich sehen. - Sie sind neo-klassisch.
Der Begriff ‚klassisch’ hat zwei Bedeutungen: Zum einen beschreibt es etwas von allererster Qualität in Ausführung, Gestaltung oder Material und zum anderen beschreibt es die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kunstrichtung, nämlich der Klassik. Somit ist es kein Widerspruch wenn man zu einem wirklich gelungenen Bonsai sagt, er wäre ein klassisches Beispiel für den zeitgenössischen Stil.
Zeitgenössisch: Der Begriff ‚zeitgenössischer Bonsai’ wurde zuerst von Yuji Yoshimura benutzt. Er nannte alles, was seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht unter den klassischen oder neo-klassischen Stil fiel zeitgenössisch. Es gibt nicht nur den einen zeitgenössischen Stil, sondern es gibt mehrere bisher undefinierte, aber definitiv unterschiedliche Stile. Es ist wichtig, hier anzumerken, dass der klassische, der neo-klassische und die zeitgenössischen Stile bereits seit einer ganzen Zeit nebeneinander existieren. Man kann nicht sagen, dass die eine Periode, wie etwa die klassische, aufgehört hat und die nächste, wie die neo-klassische oder die zeitgenössische, nachfolgte.
Der Stil der zur Zeit progressivsten Künstler könnte genausogut als Modern bezeichnet werden. Ein typischer Vertreter ist Kimura. Ernie Kuo7 besteht darauf, dass Kimura auf klassische Art arbeitet, aber ausschliesslich mit modernen Techniken. Luis Fontanills8 hingegen meint, dass Kimura selbst sich als einen zeitgenössischen Künstler mit avantgardistischer Aussage bezeichnet:9 „Aber in der Zukunft muss die Bonsaikunst auf neue Art und Weise ausgedrückt werden, mit einem erweiterten Konzept. Wir jungen Bonsaikünstler dürfen keine Angst davor haben, Traditionen zu brechen, da die Ziele dieselben sind. Falls nicht, wird Bonsai sich zu einer blossen Kuriosität entwickeln, aber nicht zu einer Kunstform.... Da wir mit den Traditionen mehrerer Jahrhunderte brechen, sehen unsere Bonsai vielleicht nicht allzu attraktiv aus. Vielleicht bemerken die Kritiker gar nicht, dass der Bruch nur die Form betrifft, nicht aber die Substanz, da der Geist in dem wir Bonsai kultivieren weiterhin derselbe ist: Güte, Schönheit und Frieden.“ Es gibt Leute, die nennen Kimura den König des klassischen Bonsai, sie sagen, dass er klassische Bonsai gestaltet hat. Kimura hat in der Tat in den Siebzigern und Achtzigern viele klassische Bonsai gestaltet, aber er kann schwerlich weiterhin als klassischer Künstler bezeichnet werden. Viele seiner zeitgenössischen Werke sind Wegweiser für die meisten anderen zeitgenössischen Bonsai, die er somit geprägt hat. Diese Bäume können als klassisch bezeichnet werden, in dem Sinne, dass sie führende Werke der gegenwärtigen Periode sein werden.
Luis Fontanills schreibt:10 „Was mir an Kimuras Werk am besten gefällt ... ist seine sehr forschende figürliche Arbeit (er arbeitet genauso im klassischen Genre). Ich fühle mich seinen lebenden Skulpturen verbunden und habe sie auch nicht als fremd empfunden; andererseits bin ich seit meiner Kindheit mit moderner Kunst aufgewachsen. Er hat die Grenzen von Bonsai vorangetrieben und einen expressionistischen/abstrakten Stil kreiert, der sehr populär geworden ist, da er voller Dynamik und Kraft ist (viel Todholz und Bewegung). Er ist ein Teil der Bonsai-Avantgarde. Diese Art von Ausdruck/Stil wird Bestand haben. Es bedeutet nicht, dass der traditionelle/klassische Stil verschwinden wird, aber er wird davon bereichert werden, so wie die Avantgarde von der Vergangenheit bereichert wurde.“
Ein guter zeitgenössischer Künstler zeichnet sich dadurch aus, dass er kreativ ist und sich auf neues Gelände wagt, dass er die alten Regeln nur nutzt, wenn er sie für passend hält. Der bewusste Bruch der klassischen Regeln verbreitet sich zusehends unter vielen Künstlern in Europa und auch bei einigen in Amerika, es wird als eine Frage der Einstellung angesehen. Die Bäume sind viel expressionistischer oder impressionistischer als vorher, sie haben die Tendenz extremer zu werden im Vergleich zu den alten Standards.
Unter ‚zeitgenössisch’ darf man auf keinen Fall einen gleichförmigen Stil verstehen. Die Geschichte wird entscheiden, welche der vielen derzeitigen Trends sich zu einem eigenständigen Stil entwickeln. Der ‚Kimurastil’ ist am bekanntesten: Sehr kraftvolle Koniferen mit im Vergleich zur Baumhöhe riesigen Stämmen. Eine Proportion von 1:3 (Stammdurchmesser zu Baumhöhe) ist normal geworden, was eigentlich für grotesk gehalten worden war. Diese Bäume werden wegen ihrer kraftvollen und irgendwie übertriebenen Erscheinung als ‚Sumobonsai’ bezeichnet. Der Gebrauch von Todholz dominiert. Viele Bäume bestehen an scheinend zu 90% aus totem Holz. Die Formen sind fantastisch und unreal, obwohl meistens natürlich gewachsenes Todholz verwendet wurde. Die Kronen sind recht klein und betonen die Kraft, die vom Stamm und vom Todholz ausgeht. Die ganze Krone tritt in ihrer Bedeutung zurück. Es sieht so aus, als zeige sie nur, dass der Baum noch lebt. Die Krone dekoriert den starken Stamm und das überwältigende tote Holz. Beim klassischen Stil ist die Krone der wichtigste Teil, der von einem eindrucksvollen Stamm gehalten wurde und oft mit Todholz dekoriert war. Die Krone wird jetzt meist nach der Silhouette gestaltet. Es ist nicht mehr so wichtig, wo genau die Äste sind. Wenn an einer Stelle kein Ast ist, wo einer hingehört hätte, dann wird eben ein anderer Ast heruntergebogen, manchmal auch in unschönen Windungen, die dann mit Laub verdeckt werden. Der erste Ast wird weniger wichtig. Es ist wichtiger, dass das Laub an der richtigen Stelle ist. Die Krone wird meist als Baldachin, pilzförmig, geschnitten, die Ebenen nur angedeutet. Wenn dünne Stämme genommen werden, tendieren sie stark zur Treibholzform. Die Stammformen gehen in Richtung extrem verdrehter und gespaltener Gestalten, die früher als grotesk bezeichnet wurden.
Auch der Gebrauch von Schalen geht neue Wege. Alle Arten von ‚verrückten’ Schalen und Pflanzungen werden ausprobiert. Früher wurden auf Felsen gepflanzte Bäume nicht den Bonsai zugeordnet. Jetzt werden Bäume, die auf Felsen, rostigen Eisenkonstruktionen (Farrand Bloch) oder sogar auf Statuen oder in Schädeln (Nick Lenz) gepflanzt wurden, als Bonsai verstanden. Der Trend geht weg von der Ausstellung in einer Tokonoma, es werden neue Wege gefunden. Salvatore Liporace präsentierte eine riesige Lärche auf einem rostigen Ölfass. Die klassischen Akzentobjekte werden mehr und mehr durch andere Dinge ersetzt.
Oft werden Koniferen in diesem abstrakten und expressionistischen zeitgenössischen Stil gestaltet. Laubbäume werden eher in einer naturalistischen und impressionistischen Weise im klassischen japanischen Stil oder in einem Stil, der sehr dem Penjing gleicht, gestaltet. Zur Zeit wird dies auch im Westen zum Trend mit neuen Arten und Formen, die vorher nicht zu sehen waren. Man kann es entweder als zeitgenössisch oder als neo-klassisch bezeichnen.
Es ist klar, dass der neue Geist auch jeder Art von Unsinn Tür und Tor öffnet. Diese neue Freiheit kann sowohl von einem Genie als auch von einem Narren genutzt werden, um irgendwas zu Bonsaikunst zu erklären. Aber es öffnet Türen und neue Kreationen werden erscheinen, die den Test der Kunstgeschichte bestehen werden. Sie wird uns letzten Endes sagen, ob das, was wir auf den ersten Blick so gar nicht mochten nur ein Fehler war oder der Durchbruch in eine neue Ära. So ein Durchbruch kann für jeden eindeutig erkennbar sein oder nur aus einer subtilen Kleinigkeit bestehen.
Es hilft viel, wenn man sich nicht um einen traditionellen Meister scheren muss, der hinterher auf traditionelle Weise kritisiert. Deshalb ist es wohl auch kein Zufall, dass neue Kreationen meist aus Ecken kommen, in denen der japanische Einfluss minimal ist. Manche sindsogar stolz darauf, keinen japanischen Lehrer gehabt zu haben und hatben das Gefühl, dass sie nicht durch altmodische Gestaltungsmuster ‚verdorben’ worden sind. Da können gleichzeitig viele ‚gute Versuche’ oder einfach nur Müll als Ergebnis herauskommen.
Wenn jemand von zeitgenössischem Bonsai spricht, dann werden häufig Beispiele von Bäumen, Schalen und Ausstellungen angeführt, die zeitgenössisch zu sein scheinen, aber schon recht alt sind. Man könnte es als Beweis ansehen, dass es so etwas wie zeitgenössischen Bonsai gar nicht gibt. Ja, es gibt immer die Möglichkeit einen Baum zu finden, der im zeitgenössischen Stil gestaltet wurde, nur sehr viel früher. Es gibt viele solche Beispiele für Bäume, die als Avantgarde durchgehen könnten. Es wird meist übersehen, das zeitgenossisches Bonsai bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Japan begann und neben dem klassischen Stil bis heute fortbesteht. Es lassen sich auch recht alte Schalen finden, die genauso ausgefallen sind wie die heutigen. Das ist zwar sehr interessant, aber ändert nichts an der Idee.
Es gab in der Kunst immer kreative Menschen, die etwas ausprobierten. In den Ländern mit so vielen Bonsaianern wie Japan oder China müsste eigentlich alles schon einmal ausprobiert worden sein. Aber der Prüfstein ist immer, ob dieses oder jenes zu einem Trend wird. Meist ist das nicht der Fall. Vielleicht weil der Künstler nicht bekannt genug war; mag sein die Arbeit war irgendwie nicht gut genug oder es war meist einfach nicht die richtige Zeit dafür. Wenn ein neuer Stil Mode wird, muss man seine ersten Beispiele als Wegweiser sehen. Wenn daraus kein neuer Trend entsteht, war es nur für die Akten. Die Kunstgeschichte ist voller solcher Beispiele, die aber alle nicht als Beweis dafür taugen, dass ein neuer Stil nicht neu ist. Manchmal kann es auch geschehen, dass ein Stil, der vor einiger Zeit angefangen und in einer Sackgasse geendet hatte, wieder aufgenommen wird um dann erst richtig durchzustarten.
Lassen Sie uns den Impressionismus als Beispiel nehmen.11 Der Begriff Impressionismus, oder impressionistische Malerei, beschreibt eine Malerei, die gesprenkelt und irgendwie formlos ist, als Gegenteil zu dem linearen, klar umrissenen „klassischen“ Stilarten. So etwas erscheint in vielen Epochen. Der Begriff Impressionismus aber erscheint bei einem besonderen Stil des späten 19. Jahrhunderts ... Es gab aber bereits romanische Wandgemälde, die eindeutig impressionistisch sind. Dies zeigt, dass die Stile irgendwie immer vorhanden sind, aber manchmal werden sie für eine Weile dominierend. Warum sollte das nicht auch auf die Bonsaikunst zutreffen?
Für einen Künstler bedeutet die Arbeit in einem bestimmten Stil mehr als sich dafür entschieden zu haben. Es bedeutet eine totale Änderung der Ansichten, der Art über Bonsai zu denken und daran zu arbeiten, sich von der Tradition radikal abzuwenden. Es ist zu verstehen, dass diejenigen, die die Traditionen (immer noch) hoch halten, grosse Probleme damit haben dies zu akzeptieren und dass sie oftmals gefürchtete Feinde der Veränderung sind. Die Geschichte hat allerdings gezeigt, dass die jungen Revolutionäre älter werden und ihre eigene Revolution grimmig gegen die nächste verteidigen.
Während wir alle wissen, wie klassische Bonsai zu bewerten sind, haben die meisten Bonsaienthusiasten Probleme mit der Beurteilung mehr zeitgenössischer Gestaltungen. Es scheint nur, dass diese ausserhalb der Grenzen der etablierten Standards liegen. Sie sind ausserhalb der Grenzen der etablierten Regeln für klassisches Design. Wie Lynn Boyd12 betonte, es gibt immer gewisse Standards, langlebige und universelle Standards zur Bewertung von – selbst der Avantgarde. Ein Bewerterkann sich von der Liste der Konventionen (Regeln) auf den etablierten Bereich der Proportionen, Balance, Textur, Verhätnisse der Objekte zueinander und Konzept der Zusammenstellung bewegen, was man als kompositionelle Elemente bezeichnet. Und Brett Johnson13 fügte hinzu, dass es genau definierte Regeln zum Bewerten von abstrakten Skulpturen gibt, die die geometrischen Formen dazu benutzen, entsprechend denen ein Bonsai als eine Form der figürlichen Darstellung bewertet werden kann. Aber auch wenn es keine Regeln gibt, ist es immer der Künstler, der Standards braucht mit denen er gestalten kann. Er mag selbst nicht in der Lage sein diese Standards auszudrücken, aber sie sind trotzdem vorhanden.
Dies verlangt viel von den Bewertern, da sie flexibel sein müssen und eine breitere Wissensbasis brauchen, um darauf zurückzugreifen. Deshalb sollten Bonsai aus der Kategorie Avantgarde/zeitgenössisch auf einer Ausstellung als solche eingeordnet und bewertet werden. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Klassifikation von traditionell und avantgarde weiter versucht und vorgeschlagen werden muss. Es ermöglicht die Existenz und Gültigkeit dieser radikaleren Bonsai auf den offiziellen öffentlichen Ausstellungen.
Wo wird dies alles hinführen? Es gibt viel Gerede über nationale (westliche) Bonsaistile, die entstehen oder bereits entstanden sind. Der neue liberale Geist lässt manche glauben, dass man versuchen sollte einen nationalen Stil zu entwickeln. Aber wer braucht das und warum? Es gbt Fälle, da wächst eine bestimmte Baumart in einem Land auf eine bestimmte Weise. Dies ist der einzige Bedarf für einen nationalen Stil oder besser Form. Oder wie wäre es mit dem ‚Lichtensteiner Stil’ ?
Die Wahrheit ist, dass es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass eindeutige nationale Stile entstehen werden,obwohl einige Länder sich schneller entwickeln als andere. Dies war in der Kunst zu Zeiten möglich, als es fast keine Kommunikation zwischen den Nationen gab. Heutzutage, wo das Reisen so leicht und eine tägliche Kommunikation persöhnlich oder durch Bilder über nationale Grenzen hinweg normal ist, lernt jeder von jedem quer durch die ganze Welt. Das Ergebnis werden mehr Freiheit und mehr typische persönliche Stile, besonders im Westen, sein. Colin Lewis14 sieht für die Zukunft keinen homogenen Bonsaistil, sondern eine neue Vielfalt, da immer mehr kreative Leute sich die Kunst zu eigen machen.
Es wird immer mehr Künstler geben, die sich die Freiheit nehmen das zu machen, was sie für richtig halten und sie werden ihre Anhänger finden, woraus sich neue Gruppen bilden, die in der ganzen Welt auf eine bestimmte Weise gestalten. Sie haben vielleicht zu einer bestimmten Zeit in einigen Ländern mehr Anhänger, aber es sollte dann trotzdem nicht als ‚nationaler’ Stil bezeichnet werden.
b)Naturalistisch und Abstrakt
Naturalistisch: Dies ist der Stil, bei dem die Bäume so geformt werden, dass sie so nah wie möglich den realen Bäumen gleichen. Das heisst, das viele klassische Regeln gebrochen werden müssen. Oft werden diese Bäume als ‚Unkraut’ oder Rohmaterial vom Publikum angesehen, welches diese bisher nicht gewohnt war. Es scheint einfach zu sein, einen naturalistischen Baum zu gestalten – einfach wachsen lassen. Das ist aber auf keinen Fall wahr. Ein guter Bonsai im naturalistischen Stil braucht mindestens genausoviel Überlegung wie ein abstrakter. Andernfalls wäre er wirklich nur Unkraut.
Durch viele Diskussionen im Internet wurde es offensichtlich, das die meisten Leute Schwierigkeiten haben den Begriff ‚naturalistisch’ zu akzeptieren. Das allgemeine Gefühl besagt, dass es überflüssig ist, da jeder ernsthafte Bonsaienthusiast sowieso versucht einen natürlich aussehenden Baum zu gestalten. Nichts könnte jedoch weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die meisten Bonsaienthusiasten versuchen Bonsai zu gestalten, die so ideal wie möglich sind und machen sie damit zum Gegenteil von naturalistisch. Sie sind ziemlich abstrakte, idealisierte Bäume. Ein anderes Missverständnis ist, das die Leute denken, ein naturalistischer Bonsai ist einer, der so belassen wurde wie er war, ohne weiter Gestaltung. Das ist natürlich absolut nicht der Fall. Lynn Boyd15 schlug vor es als ‚romantischen’ Stil zu bezeichnen. Das sollte eine Bezeichnung sein, die von den meisten Leuten verstanden wird.
Jeder Bonsai so wie jedes Kunstwerk braucht einen gewissen Grad an Abstraktion. Der naturalistische Bonsai hat es zu einen geringeren Grad als der abstrakte, aber er hat immer noch die helfende Hand des Künstlers. Nur dass der Künstler ihn so aussehen lassen möchte, als wäre er nicht von einer menschlichen Hand berührt worden. Für das Publikum sieht es vielleicht aus, als wäre es nicht so schwierig, als könnten sie das auch ohne weiteres selbst. Das ist das gleiche, wenn Leute vor modernen abstrakten Bildern stehen und behaupten, dass könne ihr Kind auch. Nur, wenn dies der Fall ist, warum ist dieses Kind dann nicht weltberühmt?
Es ist interessant hier zu erwähnen, dass viele zeitgenössische Künstler sich entweder sehr abstrakten oder sehr natürlichen Bäumen zuwenden, aber auf jeden Fall einem Extrem. Es wird oft übersehen, dass viele klassische Bäume in Japan naturalistisch sind und ebenso fast alle Penjing. Im Westen scheint das revolutionär zu sein. Es ist nur wie eine Reaktion auf das neo-klassische Design mit dem sklavischen Festhalten an Regeln, die nie dafür gedacht waren als Gesetze genutzt zu werden.
Wir sollten uns noch mal erinnern, dass Stil in dem Zusammenhang dieser Klassifikation den Gesamteindruck des Bonsai meint, im Gegensatz zur Form, der Gestalt eines bestimmten Baumes. Man kann sehr wohl eine klassische Form nehmen und sie mit naturalistischen Details gestalten und deshalb wegen dem Gesamteindruck einen naturalistischen Bonsai kreieren. Bei vielen Baumarten und sicherlich bei vielen einzelnen Bäumen passen die klassischen Formen einfach nicht. Zumindest entspricht das dem Gefühl einiger Künstler. Deshalb haben sie damit angefangen neue Formen zu entwickeln mit Bäumen, die vorher im allgemeinen nicht als Bonsai genutzt wurden. Vaughn Banting hat sich daran gewagt das natürliche Aussehen der Sumpfzypressen zu kopieren, die in der Natur einen flachen Wipfel aus mehreren Kronen haben. Der Autor hat sich als erster an die Kandelaberform von Koniferen gewagt. Bäume entlang der Baumgrenze werden sehr oft von Blitzen getroffen und der Hauptstamm stirbt ab. Untere Zweige entwickeln sich dann zu einem oder mehreren Stämmen, was dann wie ein Kandelaber aussieht. Eine andere Form, die aufgetaucht ist und Bäume beschreibt und repräsentiert, wie sie in der Natur wachsen, ist der ‚Banyanstil’ der tropischen Feigen. Banyanbäume wachsen im tropischen Klima und haben typische Luftwurzeln, die am Stamm erscheinen und von den Ästen in den Boden reichen. In der Natur haben diese Wurzeln die Funktion den Baum zu stabilisieren und ihm zu helfen sein ‚Territorium’ einzunehmen. Ein anderes Beispiel ist der ‚Baobabstil’, der den recht ungewöhnlichen natürlichen Wuchs des Baobabbaumes in Afrika gleicht. In Südafrika werden die Baobabbäume genauso gestaltet, wie sie in der Natur erscheinen mit ihren immensen Ästen, die wie fette, in die Luft gerichtete Wurzeln aussehen.
Charles Ceronio16 erwähnt weitere afrikanische Formen neben der Baobabform, die er ‚Stile’ nennt: Die Pierneefform17: Die Akazie ist ein Baum, den jeder in Afrika kennt. Er hat eine typische halbkreisförmige Krone, wie ein offener Regenschirm. Eine andere Form ist die Flachkronenform, die auch die typische Form einer Akazienart aus den wärmeren Gegenden Afrikas zeigt und auch als ‚Flachkronenakazie’ bezeichnet wird. Die Krone ist in der Tat sehr flach und ausserhalb Afrikas könnte man dieses Aussehen als grotesk empfinden. Aber es ist nur eine Frage dessen, was man zu sehen gewohnt ist. Ceronio definiert auch eine Bushveld oder natürliche Form, die im Grunde das gleiche ist wie die freie Besenform oder Eichenform, ohnehin die verbreitetste Form bei Laubbäumen. Die wilde Feigenform ist im grossen und ganzen identisch mit dem amerikanischen ‚Banyanstil’.
Die überwiegende Mehrheit der Laubbäume und viele Koniferen wachsen in der Natur in der freien Besenform, die im allgemeinen aus einem sich verjüngenden Stamm besteht, der sich bald in mehrere Stämme aufteilt, die aufwärts wachsen und sich wiederum in aufrechtwachsende Äste aufteilen. Der Stamm und die Äste dieser Form sind gebogen. Wenn sie gerade sind, spricht man von der genau dokumentierten strengen Besenform. Interessanterweise gibt es in den traditionellen Bonsairegeln keinen Begriff für diese Form, die bei weitesten die häufigste in der Natur ist. Jeder Bonsaienthusiast wird sich schon mal gefragt haben, warum er nicht versucht seine Bäume so zu gestalten, wie die in seinem Vorgarten. Zeitgenössische Bonsaikünstler gestalten auf genau diese Weise. Paul A. Ringo18 hat diese Form, die er ‚Live Oak Style’ („Eichenstil“) nennt, beschrieben und wundert sich, warum sie nicht öfter bei westlichen Arten angewandt wird. Man kann noch weiter gehen und sich fragen, warum sie nicht öfter für asiatische Arten genutzt wird.
Die freie Besenform könnte eine ähnliche Karriere machen wie die frei aufrechte oder Moyogi-Form. Es ist schwer zu glauben, dass es erst 1955 in Japan nötig schien der Öffentlichkeit nahezulegen, diese ‚neue’ Form zu nutzen. Nachdem die natürlichen Ressourcen von gesammeltem Material erheblich geschrumpft waren, wurde es üblich, Bonsai aus Baumschulware zu gestalten. Diese waren beschränkt auf ‚ideale’ Formen – zu der Zeit war die streng aufrechte Form allzuoft das einzige Ideal. Deshalb lautete die Anweisung in ‚An Easy Guide To Bonsai’19: „... den einzelnen Baum frei in Anlehnung an seine ihm eigenen Merkmale gestalten, um seinen besonderen Charme voll herauszubringen.“ Dies zielte auf die Mode ab, zu versuchen jeden Baum in der streng aufrechten Form zu gestalten und dabei Klischees und Wiederholungen zu kreieren, die alle gleich aussahen und meist auch nicht zu der benutzten Art passten. Es schien notwendig den Leuten klar zu machen, dass Stämme nicht gerade sein müssen, sondern auch gebogen sein können. Äste müssen nicht gerade und immer in der idealen Position sein, sie können Biegungen und Kinken haben.
Es ist schwer heute zu glauben, dass die frei aufrechte Form vor nicht allzu langer Zeit besonderer Ermutigung bedurfte. Heute ist sie die verbreitetste und populärste Form. Die freie Besenform könnte den selben Weg gehen. Sie ist nur eine Variante der frei aufrechten Form, wo die meisten Äste auf einer Ebene erscheinen und diese Äste im allgemeinen eine starke Tendenz zum Aufwärtswachsen zeigen. – Eine Form, wie sie bei den meisten Laubbäumen in der Natur vorgefunden wird.
Naturalistisch und natürlich ist nicht das gleiche. Ein naturalistischer Bonsai kann mit sehr künstlichen Gestaltungsmethoden geformt werden. Es ist durchaus möglich einen Baum mit ganz und gar künstlichem Todholz zu haben, das so gut gemacht ist, dass es absolut natürlich aussieht. Es ist ebenso üblich einen Baum zu 100% zu verdrahten und dann vorsichtig alle Äste in Position zu bringen, so dass der Baum sehr natürlich wirkt. Das ist eines der Paradoxa bei der Bonsaikunst.
Colin Lewis20 betonte, wir sollten nicht vergessen, dass unsere Bonsai winzige Bruchteile der Grösse ihrer natürlichen Gegenstücke haben und sie deshalb in Struktur und Form einfacher sein müssen. Bedeutende Merkmale müssen betont und unwichtige weggelassen werden. Daher ist es einfach nicht machbar, einen grossen Baum einfach zu kopieren. Ein Bonsai vermittelt nicht unbedingt die genaue Erscheinung eines natürlichen Baumes, aber das Gefühl, dass man bei seinem Anblick hat. Die geschicktesten Künstler vertiefen dieses Gefühl noch, indem sie uns nur die Elemente zeigen, die es hervorrufen. Man kann dieses Gefühl durch Vereinfachung und Idealisierung des Baumes hervorrufen, indem man ihn mehr und mehr abstrahiert. Dann ist es ein recht abstrakter Baum. Man kann dieses Gefühl aber auch durch die Nutzung natürlicher Formen und Details hervorrufen, dann wird es ein eher naturalistischer Bonsai. Aber er ist immer noch weit davon entfernt eine direkte Kopie eines natürlichen Baumes zu sein, er ist immer noch irgendwie idealisiert und daher abstrakt, nur eben weniger als der erste
Es wäre ein Fehler zu denken, dass es einfacher ist, einen naturalistischen Bonsai zu gestalten als einen abstrakten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ein naturalistischer Bonsai ähnelt einem Ideal, einem typischen natürlichen Baum. Was so normal ist, sollte eigentlich einfach zu gestalten sein. Aber genau wie eine anmutige Bewegung beim Tanz oder anderem Sport, täuscht es durch seine Einfachheit. Es sieht halt so einfach aus ... bis man versucht es selbst zu wiederholen. Dann ist die Einfachheit demaskiert und enthüllt ein wenig die Komplexität.21 Man muss erkennen, dass ein Bonsai immer zu einem gewissen Grad abstrakt ist. Die klassischen Bonsai sind sogar recht abstrakt. Es gibt die bekannten Regeln und Richtlinien, die uns erzählen, wie ein klassischer, abstrakter Baum zu gestalten ist. Aber es gibt nur sehr wenige niedergeschriebene Regeln, die uns erzählen wie ein naturalistischer Bonsai zu gestalten ist. Die Lösung besteht nicht darin, einen Baum nur wachsen zu lassen, zurückzuschneiden und wieder wachsen zu lassen. Durch diese übliche Clip-And-Grow-Methode bekommt man zwar einen beschnittenen Baum. Aber es kommt doch sehr darauf an, wie der Baum beschnitten wird. Aus diese Weise kann er genauso gut zu einem abstrakten Baum werden.
Reiner Goebel fragt22: „Bonsai begann vor ein paar tausend Jahren mit ‚natürlichen’ oder ‚naturalistischen’ Pflanzen. Es bedurfte dieser ganzen Zeitspanne um es auf seinen heutigen Kulturstand zu bringen. Und nun möchtest du die Uhr zurückdrehen?“ Nein, überhaupt nicht. Nur dies ist damit gemeint: „Halt einen Moment inne und denk darüber nach, was du tust. Bonsai ist die Kunst einem kleinen Baum in einer Schale das Aussehen eines grösseren Baumes zu geben – oder nimm dafür eine ähnliche Definition. Nun, was machen die meisten? Gucken sie auf grosse, natürliche Bäume und versuchen sie dieses Gefühl auf ihre Bäume zu übertragen? Oder gucken sie in Bonsaibücher, auf die Regeln und versuchen Meisterwerke zu kopieren und Regeln anzuwenden? Das letztere ist der Fall. Wie sieht das bei einem Maler aus, der Menschen malt und in ein Museum geht, Bücher studiert, sich selbst vergräbt und das malt, von dem er weiss wie es gemalt werden sollte. Wenn er durch die Strassen geht, sieht er reale Leute, aber es käme ihm nicht für eine Sekunde in den Sinn, dass er sie als Modelle nehmen könnte. Die realen Leute passen nicht zu den Regeln, die dieser Maler über ‚ideale’ Leute gelernt hat. Soll man nun die Leute austauschen oder die Regeln?“
Wie John Naka wiederholt gesagt und in seinem berühmten Buch gezeigt hat, kann ein Bonsaienthusiast gar nicht genug auf die natürlichen grossen Bäume schauen um die Inspiration für seine Kunst zu bekommen. Lisa Kanis23 hat bemerkt, dass Bonsai ihre Sichtweise auf Bäume in der Natur verändert hat und nicht umgekehrt. Das ist eine interessante Beobachtung und erklärt, warum so viele Bonsaienthusiasten sich gerne Bäume und Bilder von ihnen angucken, dann aber zurückgehen und ihre Bonsai nach anderen Bonsai gestalten anstatt nach diesen natürlichen Bäumen. Bei Diskussionen im Internet ist wiederholt erklärt worden, dass obwohl das Bild eines Baumes in der Natur für die meisten Leute schön aussehen kann, dass nicht bedeutet, dass er auch als Bonsai schön aussehen würde. Bedeutet: wenn er einige klassische Regeln bricht! Wie ist es damit: Eine Person, die die meisten Menschen für schön halten, sieht auf einem Bild nicht mehr so schön aus. Bedeutet: wenn sie nicht wie ein ‚idealer’ Mensch aussieht. Wieweit kann so eine Gehirnwäsche gehen? Es geht so weit, dass Bonsaianer, die das Bild eines natürlichen Baumes zu sehen bekommen, der einige der Bonsairegeln bricht, aber von der überwiegenden Mehrheit der normalen Leute für schön gehalten wird, sagen werden, dass das kein so schöner Baum ist. Sie sind sich nicht mehr bewusst, dass sie die neo-klassischen Bonsairegeln auf einen natürlichen Baum anwenden und ihn damit beurteilen, anstatt ihren gesunden Menschenverstand zu benutzen und ihre Regeln der Realität anzupassen.
Eine Unterkategorie des naturalistischen Stils ist der romantische Stil. Arbeiten in diesem Stil treiben die naturalistische Seite auf die Spitze, versuchen einen lieblichen Baum zu erhalten oder eine Szenerie mit der Einbeziehung von Zubehör wie Felsen oder Figuren. Beispiele sind die Wasser-und-Land Penjings von Qingquan Zhao und einige Kreationen von Nick Lenz.
Abstrakt oder Idealistisch: Einen Bonsai oder ein Kunstwerk zu gestalten bedeutet immer einen gewissen Grad an Abstraktion. Das bedeutet einfach nur, sich von der naturalistischen Erscheinung zu entfernen. Viele Leute denken, unter Abstrakt ist etwas zu verstehen, das man nicht mehr erkennen kann. Das stimmt nicht, es ist nur eine Frage, wie weit es geht. An Stelle von Abstraktion konnte man auch Idealisieren sagen. Man nimmt einen Baum und macht ihn idealer, und so gleichzeitig schöner. Die Frage ist nur wie weit man damit geht. Und die Frage ist, ob er dabei schöner wird und nach wessen Geschmack.
Beim klassischen Stil sind die Koniferen meist im abstrakten Stil, sie sehen wie natürliche Bäume aus, nur viel idealer eben. Die Form der Krone ist idealisiert, der Stamm und der Wurzelansatz sind perfekt und die Astetagen sind klar definiert mit sauberen Umrissen. Die Abstraktion kann im zeitgenössischen Stil noch weiter voran gebracht werden. Das geht, wenn die Gestaltung den Versuch aufgibt den natürlichen Formen zu folgen. Obwohl er immer noch ein lebender Baum ist, sieht er wie ein Baum vom anderen Stern aus. Das tote Holz sieht eher wie eine Skulptur denn wie natürliches Todholz aus. Kronen werden nur gestaltet um zu zeigen, dass der Baum am Leben ist. Die sauberenkleinen Kronen, wie sie Kimura oft benutzt, gehen in diese Richtung.
Der ideale Baum ist der Archetyp eines Baumes oder ein Sinnbild, dass der Betrachter als solches auch erkennt. Das bedeutet, dass der Betrachter die selbe oder eine ähnliche Vorstellung davon haben muss, was ideal ist, um den Baum sofort einschätzen zu können. Beim klassischen Bonsai hat der Betrachter entweder ein ähnliches Bild im Sinn oder er hat gelernt den klassischen Archetyp als Ideal anzusehen.
Zeitgenössische Künstler nutzen immer mehr ausgefallenes Material um ihre radikalen Bonsai zu formen. Heutzutage gilt, je verdrehter und fantastischer im Aussehen, desto besser. Das bedeutet, dass die Künstler ihre Idee eines idealen Baumes eingetauscht haben gegen einen extremen Baum. Sie suchen nach ausgefallenem Material, das es ihnen erlaubt ihre abstrakten Gestaltungen zu machen.
Dies ist in der Geschichte des Bonsai keine ganz so neue Entwicklung, es ist nur neu für die letzten Jahrzehnte. Während der Edo-Periode (1603 – 1868) gab es eine Mode für Bonsai in verdrehten oder fantastischen Formen. Diese wurden später missbilligt und kommen heute wieder in Mode.
Abstrakt und künstlich ist nicht dasselbe. Es ist nicht nötig, dass ein abstrakter Bonsai künstlich gestaltet wird. Solange ein Baum irgendwie gestaltet wirkt, ist er abstrakt. Wenn er unreal aussieht, wie nicht von dieser Welt, wie eine Skulptur, dann ist er sehr abstrakt. Teile des Baumes oder auch der ganze Baum können dabei sehr wohl natürlich sein.
Natürlich gestaltetes Todholz, das unberührt von jedem Werkzeug ist, kann einen Bonsai abstakt machen, wenn die Erscheinung entsprechend ausgefallen ist. Ein Stamm, der von der Natur geformt wurde und verdreht und verschlungen ist, kann als Material für einen aussergewöhnlichen abstrakten Bonsai dienen. Das ist schwer zu verstehen, aber man muss sich ins Gedächtnis rufen, ein Bonsai ist nicht die Kopie eines Baumes, sondern dessen Bild, das Sinnbild eines Baumes. Es ist in klassischer Weise das Sinnbild eines idealen Baumes, der ein normaler, ein ‚natürlicher’ Baum ist. Dieses Bild kann der Realität sehr nahe kommen, dann ist der Bonsai naturalistisch. Das Bild kann aber auch weiter von der Realität entfernt sein, dann wird der Bonsai zunehmend abstrakter. Ab einem bestimmten Punkt präsentiert dieses Bild nicht mehr einen ‚natürlichen, idealen’ Baum, sondern einen extremgeformten Baum, der so ausgefallen ist, dass er nicht mehr als typisch gelten kann.
Man muss sich eine Linie vorstellen, die in zwei Hälften geteilt ist. Auf der linken Seite ist der Naturalismus, aus der rechten Seite ist das Abstrakte. Je weiter jemand sich auf dieser Linie nach aussen bewegt, bekommt er entweder einen ganz naturalistischen oder im anderen Extrem total abstrakten Baum. Wenn jemand den naturalistischen Stil auf die Spitze treibt, nimmt er einen Strauch und pflanzt ihn in eine Schale. Im anderen Extremfall, wenn jemand die Abstraktion auf die Spitze treibt, nimmt er einen Baum in einer Schale und schneidet ihn zu einem perfekten ungleichschenkeligen Dreieck, wie es manchmal bei einem Formschnitt gemacht wird. Beide Extreme werden sicherlich nicht für gute Bonsai gehalten werden. Die Wahrheit liegt auf dieser Linie irgendwo dazwischen, mit dem Naturalismus auf der linken und dem Abstrakten auf der rechten Seite. Ein spezifischer Bonsai wird niemals an einem äusseren Ende dieser Linie liegen, aber sicher irgendwo dazwischen anzusiedeln sein. Welchen Stil er hat, hängt davon ab, ob er mehr zur naturalistischen oder zur abstrakten Seite neigt. Alles was zählt ist das Aussehen des Bonsai. Ein weitgehend naturalistischer Baum wird von Publikum häufig nicht als Bonsai verstanden, sondern als ein Stück Rohmaterial. Genauso wird aber auch ein recht abstrakter Baum oft nicht als Bonsai angesehen, sondern eher als Skulptur. Beide Gestaltungen sind gegensätzliche Extreme.
Es macht keinen Unterschied, ob dieses Aussehen vom Menschen oder von der Natur gestaltet wurde. Also ist es manchmal durchaus rechtens, einen Bonsai als abstrakt zu bezeichnen, der mehr oder weniger unverändert in eine Schale gepflanzt wurde, wie er in der Natur gefunden wurde. Andererseits kann ein sorgfältig gedrahteter und beschnittener Baum mit viel Todholz, das alles künstlich gestaltet wurde, durchaus ein naturalistischer Bonsai sein.
Das erklärt auch, warum viele Bonsaienthusiasten ein Problem haben mit diesem, wie sie es nennen, exzessiven Gebrauch von totem Holz und den verdrehten Formen. Sie mögen dem Künstler nicht zu diesem Grad an Abstraktion folgen. Oft wird gesagt, das läge daran, dass sie diesen alten verwilderten Bäumen nicht oft genug ausgesetzt sind. Man kann Bilder von natürlichen Bäumen zeigen, die in ausgefallenen Formen wachsen und sie beweisen sogar, dass der fragliche Bonsai zu 95% in seinem Aussehen von der Natur geformt wurde. Aber das hilft nicht weiter, weil der Bonsai für einige Extreme immer noch zu abstrakt ist, weil er keinen typischen Baum darstellt, sondern einen ausgefallenen. Die Tatsache, dass man den Leuten zeigen muss, dass solche Bäume wirklich irgendwo existieren, ist Beweis genug für die abstrakte Natur dieser Kreation. Es besteht kein Bedarf zu beweisen, dass ein idealer, hübscher, natürlich gewachsener Ahorn, ein typischer Ahorn, existiert.
Pius Notter ist ein Pionier des abstrakten Bonsai in Europa. Er hat das natürliche Material, das man in so fantastischen Formen in den Alpen findet, dazu benutzt um expressionistische abstrakte Bonsai zu gestalten. Zu Anfang wurde er beschuldigt keine Bilder von Bäumen zu gestalten, sondern eher Skulpturen. Dies ist eine typische Reaktion auf diesen Grad von Abstraktion, den das Publikum nicht immer nachvollziehen will.
Die Natur macht keine abstrakten Bäume. Die Natur bringt extrem geformtes Material hervor, das grotesk, zwergig oder verdreht genannt werden kann oder was immer dazu passt. Der Künstler sucht sich dieses Material dann aus und benutzt es für einen künstlerisch gestalteten Baum. Nur dann wird er abstrakt. Auch wenn der Künstler entscheidet überhaupt nichts von dem zu verändern, was die Natur gemacht hat, kann es trotzdem abstrakt genannt werden, wenn es ein Teil des Kunstwerkes ist.24
Es ist offensichtlich, das beim zeitgenössischen Bonsai ausgefallene Bäume zunehmend in Mode kommen. Während ein Bonsai im klassischen Stil immer noch irgendwie nach einem ‚normalen’ Baum aussehen sollte, scheint es hier nicht länger von Bedeutung zu sein. Ein normaler Baum ist ein langweiliger Baum. Einige Künstler suchen nach dem extremsten Material um ganz fantastische Bäume zu formen. Das ist oft sogar Material, das man vor einigen Jahren noch für unpassend für einen Bonsai gehalten hatte. Jetzt kann ein Stamm gar nicht genug Verrenkungen und Mängel aufweisen. Wenn das Todholz dann noch einen dreifachen Salto macht, wird es für exzellent gehalten. Einige Künstler können nicht verstehen, warum die Öffentlichkeit ihnen zu ihrem Grad an Abstraktion nicht folgen möchte, bei dem, was sie für überragenden Bonsai halten.
Die zeitgenössischen Künstler lieben eher abstrakte Kreationen. Es ist viel einfacher als grosser Künstler dazustehen, wenn man einen ausgefallenen Bonsai mit ‚künstlicher’ Wirkung gestaltet, was etwa das gleiche ist wie eine hochgradige Abstraktion. Die kreative Mühe einer abstrakten Arbeit ist meist sehr viel sichtbarer, wenn auch nur durch seine Abweichung von der Norm. Nach wie vor ist der Trick zum Erfolg, diese kreative Mühe zu verbergen, so dass die Gestalt des Baumes das ist, was gezeigt wird und nicht die Gestaltungsarbeit.25 Es ist irgendwieschade, dass die naturalistischen Bonsai nicht so künstlerisch wirken und deshalb nicht so viele grosse Bonsaikünstler anzieht.
c)Impressionistisch und Expressionistisch
Impressionistisch: In der Malerei verbinden die meisten Leute den Impressionismus mit der gänzlich neuen Anwendung von Licht und Farbe während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. In Wirklichkeit war es mehr als das. Vor dem Impressionismus haben Maler gemalt, was sie gelernt hatten, was man ihnen beigebracht hatte zu sehen. In der akademischen Tradition der Malerei haben sie in Gebäuden mit teilweise künstlichem Licht studiert und dann Landschaften und Menschen gemalt nicht wie sie wirklich waren, sondern wie die Maler es gelernt hatten. Die Impressionisten schauten auf das, was wirklich zu sehen war, und malten auch genau das und nicht, was und wie Akademiker verlangten, dass gemalt wurde. Sie brachen mit den Traditionen und malten ihre Impressionen mit offenen Augen und offenem Verstand, um die Realität frisch aufzunehmen, und nicht was erwartet wurde; die traditionellen Themen und die Methoden sie darzustellen. Das bedeutet, dass alle möglichen Arten von neuen Formen des Sehens und des Ausdrucks hervorkamen, Farben erschienen, die vorher irgendwie übersehen worden waren. Genauso malten sie die Formen, die sie sahen und nicht die, die sie studiert und gelernt hatten zu malen.
Fast das gleiche geschieht in der Bonsaikunst. Anstatt einen Bonsai gemäss den bekannten Richtlinien zu gestalten, so wie er aussehen ‚muss’, versucht man das Gefühl eines realen Baumes einzufangen. Die Form wwird weniger wichtig alsdie Gesamterscheinung. Das steht im scharfen Kontrast zum klassischen Stil, der mehr oder weniger auf der ‚korrekten’ Form von Details beruht um in der Summe den ‚korrekten’ Umriss einer bestimmten Form zu ergeben. Beim impressionistischen Bonsaistil versucht der Künstler den Baum so zu gestalten, dass der Eindruck dessen, das er in einem natürlichen Baum sieht, wiedergegeben wird. Ein impressionistischer Bonsai möchte wie ein Baum aussehen, anstatt wie ein stereotyper Bonsai. Typisch sind Astformen, die der Natur nahe sind, im Gegensatz zu den steifen, übermanikürten Aussehen der klassischen Äste. Ebenso werden ungewöhnliche Stammformen, Zeichen wie Löcher, Mängel, aufwärtswachsende Äste bei diesem Stil vorgefunden. Die Bäume sind auf die Weise geformt, in der die Art in der Natur wächst. Eine Fichte sieht aus wie eine Fichte. Der neue Stil ist besonders auffallend bei Laubbäumen. Sie werden niemals wie Koniferen geformt. Impressionistische Bäume sind meist auch naturalistische Bäume, aber nicht unbedingt. Ein natürlich verkümmerter Baum mit extremen Verdrehungen und fantastischem Todholz kann zu einem Bonsai gemacht werden, der äusserst abstrakt und gleichzeitig rein impressionistisch ist. Es sind die natürlichen Teile des Baumes, die ihn impressionistisch machen. Zwei der gut dokumentierten traditionellen Formen sind von Natur aus impressionistisch. Die strenge Besenform ist ein exaktes Abbild einer Zelkove, wenn man sie als freistehenden Baum in einem Park wachsen lässt. Wenn man diese Form benutzt, ist das impressionistisch und naturalistisch. Wenn jemand die strenge Besenform mit einem geraden Stamm und Ästen wie bei einem Ahorn hat, dann ist es abstrakter, aber immer noch naturalistisch. Jetzt ist es zu einem ‚Sinnbild oder Stereotyp’ geworden. Wenn diese Form für eine Konifere benutzt wird, ist es abstrakt und expressionistisch und im ganzen wahrscheinlich kein schöner Bonsai mehr. Die freie Besenform mit gewundenem Stamm wäre impressionistisch und naturalistisch bei einem Ahorn und einer grossen Zahl anderer Laubbäume.
Die windgepeitschte Form ist von Natur aus recht impressionistisch. Wenn sie gut gemacht wurde, gibt sie das wundervolle Gefühl von Wind, der in jedem Blatt und Zweig rauscht. Aber sie wird meistens zu abstrakt gestaltet, so dass die Bewegung eingefroren und unnatürlich scheint. Die ‚Ins-Licht-Wachsende-Form’ ist ähnlich, aber eine zeitgenössisch impressionistische Version der einseitigen Form. Der Baum wächst von einer dunklen Höhlung oder einem Felsen weg ins Licht und wird einseitig. Das ist aktiver und in der Regel überzeugender als die windgepeitschte Form.
Expressionistisch: Der Expressionismus sieht sich selbst im scharfen Kontrast zum Naturalisten und zum Impressionisten. Er möchte die Realität nicht kopieren, sondern er möchte seine eigene Reaktion auf die Realität zeigen. Dies ist der Stil, bei dem der Künstler im allgemeinen ein inneres Bild von einem idealen Baum (meist eine Kiefer) oder eines idealen Baumes in Bezug auf eine Art. Das Design folgt diesem Ideal dann fast mehr als die meisten Bäume in der Natur. Manchmal wird dieses Ideal einem Material aufgezwungen, das nicht dafür passend ist. Ein expressionistischer Baum möchte so weit wie möglich wie ein guter traditioneller/klassischer Bonsai aussehen. Klassische und neo-klassische Bäume sind meist expressionistisch. Laubbäume, die wie Koniferen aussehen sind typische Beispiele für den expressionistischen Stil, sie versuchen eine ‚sinnbildliche Baumartigkeit’ zu porträtieren, die auf den klassischen Bonsaitraditionen basiert.
Viele Künstler langweilen sich beim fortwährenden Wiederholen des gleichen idealen Baumes und suchen nach neuen Idealen. Sie haben die Tendenz, die Formen immer ausgefallener zu machen, nahe dem grotesken und bizarren. Der Expressionismus geht meist mit dem abstrakten Stil zusammen, aber nicht in jedem Fall. Man kann einen äusserst naturalistischen Bonsai im expressionistischen Stil gestalten. Nick Lenz hat einige sehr naturalistische Bäume gemacht, die auf Koboldfiguren oder auf richtigen Schädeln, Wirbeln und Händen aus Keramik sitzen. Dies ist fantastischer Realismus, also Surrealismus. Diese unerwartete Kombination eines naturalistischen/ impressionistischen Baumes und eines ungewöhnlichen Gefässes, das mit starken emotionalen Bedeutungen beladen ist, ist Surrealismus in der Bonsaikunst.
Der impressionistische Bonsaikünstler möchte das Gefühl eines realen Baumes vermitteln, er möchte ‚die Wahrheit zeigen’, während der Expressionist ‚die Wahrheit umkehren’ möchte. Die umgekehrte Wahrheit ist besser als die reale Wahrheit, zumindest für den Expressionisten ist das so.
d)Transzendental und Materiell
Transzendental oder Methaphysisch: Das ist der Stil, der mehr in einem Baum sieht als nur einen Baum. Das kann ein Mensch sein oder ein Tier. Der ganze Baum kann als Mensch oder Tier gesehen werden, oder nur ein Teil von ihm. Die Penjing sollen häufig wie ein Mensch oder Tier aussehen oder zumindest den Eindruck erwecken. Nick Lenz hat einige Bäume kreiert, die er ‚anthropomorph’ nennt.
Materiell oder Realistisch: Dies ist die übliche Art von Gestaltung, um einem Baum wie einen Baum aussehen zu lassen.
e)Zusammenfassung
Bedeutet dies hier alles, das wir die bekannten Namen der ‚Stile’ jetzt los werden und sie durch ‚naturalistisch, abstrakt, klassisch, usw..’ ersetzen? Nein, das wäre ein grosses Missverständnis. Alle die Formen, die wir kennen, und auch die, die man sich noch vorstellen kann, sind gerechtfertigt. Sie erhalten nur eine neue Dimension. Bisher war die Bonsaiklassifikation eindimensional. Das bisherige Verständnis war, das es nur einen möglichen Stil gibt – den klassischen. Wenn man akzeptiert, dass eine vorgegebene Form verschiedene Gefühle oder Erscheinungen oder einen anderen Ausdruck haben kann, und man zustimmt, dass dies Stil genannt wird, dann kann es eine vorgegebene Form in verschiedenen Stilen geben. Mit der Definition einiger dieser Stile wird eine zweite Dimension geschaffen, die eine Klassifikation genauer machen sollte. Es ist auch möglich darüber hinauszugehen und eine dritte Dimension hinzuzufügen oder eine vierte. Das könnten sein: Die Grösse der Bonsai, oder die Hauptbaumarten, wie Koniferen und Laubbäume. Sogar alle Baumarten könnten die dritte Dimension bilden oder auch weiter Dimensionen.
Klassisch
Zeitgenössisch
Naturalistisch
Abstrakt
Andere Stile
Streng Aufrecht
Frei Aufrecht
Kaskade
Halbkaskade
Lehnende Form
Strenge Besenform
Freie Besenform
Felsen pflanzung
Literat
Andere Formen
Tabelle I: Diese Tabelle zeigt die Stile in der horizontalen und die Formen in der senkrechten Spalte. Es werden nicht alle Stile und Formen aufgeführt. Sie ist dafür gedacht einen bestimmten Bonsai zu klassifizieren, indem er einem Quadrat zugeordnet wird. Ein Baum hat immer mindestens eine Form und einen Stil. Es ist nicht immer einfach eine Entscheidung zu treffen, weil zwischen den einzelnen Kategorien keine festen Grenzen gezogen sind. Man sollte sich dabei bewusst sein, dass ein einzelner Baum manchmal mehr als einer Form oder einem Stil angehören kann.
Die Stile der einzelnen Kategorien können untereinander gemischt werden. Und die meisten Formen können bei den meisten Stilen verwendet werden. Wo z.B. steht also der Literatenstil? Da gibt es den mittel-klassischen Literatenstil, der im naturalistischen und impressionistischen Stil ein geneigter Stamm ist. Im zeitgenössischen Stil kann er manchmal abstrakt sein, wenn der Stamm sehr verdreht ist und/oder wenn die Krone nur aus einem symbolischen Flicken Grün besteht.
Mit dieser Kategorisierung wird es offensichtlich, dass ein Baum mehrere verschiedene Formen und mehrere verschiedene Stile zur selben Zeit in sich vereinen kann. Dies ist kein Widerspruch, sondern eine Erläuterung. Es war eigentlich bisher immer so, wir hatten nur keine Worte um es zu beschreiben. Ein Baum hat im allgemeinen nur einen Hauptstil oder eine Hauptform aus einer Kategorie. Zum Beispiel ist ein Bonsai nicht radikal impressionistisch oder expressionistisch, streng oder frei aufrecht zur gleichen Zeit. Ein Baum ist entweder klassisch oder zeitgenössisch, aber kaum beides auf einmal. Manchmal können Elemente beider extremer Stilkategorien in einem Bonsai gefunden werden. Es gibt keinen ganz und gar naturalistischen oder abstrakten Bonsai. Sie fallen irgendwie zwischen diese zwei Extreme.
Die Form ist weniger zweideutig: Der Bonsai ist entweder eine Kaskade oder streng aufrecht, er ist ein geneigter Stamm oder ein dickstämmiger Baum, er hat wenig oder viel totes Holz usw. Aber er kann durch viele verschiedene Stile beschrieben werden und auch durch mehr als eine Form. Ein Bonsai könnte im zeitgenössischen, naturalistischen und impressionistischen Stil mit der frei aufrechten oder Treibholzform sein. Zusätzlich könnte er noch ein blühender Baum wie etwa eine Kirsche sein. Vorher hätte man nur gesagt, dass dieser Baum im ‚frei aufrechten Stil’ ist.
Ein Bonsai bleibt nicht zwangsläufig in dem Stil, in dem er zuerst gestaltet wurde. Offensichtlich kann er immer wieder neugestaltet werden. Es ist durchaus möglich einen Baum im naturalistischen, impressionistischen Stil zu nehmen und in einen abstrakten, expressionistischen Stil umzuwandeln. Auch die Form kann bei einer Neugestaltung geändert werden. Eine frei aufrechte Form kann in eine geneigte oder einseitige Form umgewandelt werden. Neben diesen drastischen Stiländerungen gibt es subtilere Änderungen, mehr oder weniger ohne Einwirkungen des Künstlers. Ein Baum kann durchs Altern den Stil wechseln. Es ist nicht ungewöhnlich für einen Bonsai, der eigentlich recht abstrakt ist, ‚durchgestaltet’, ein wenig geleckt aussieht, dass er ein sehr viel naturalistischeres Aussehen bekommt, indem man ihn einfach wieder wachsen lässt. Ein Laubbaum, der durch vollständiges Drahten gestaltet wurde, sieht danach irgendwie künstlich/abstrakt aus. Wenn der Zuwachs im folgenden Jahr nur zurückgeschnitten und nicht neu gedrahtet wird, entwickelt die Krone einen schönen naturalistisch/ impressionistischen Eindruck. Nach einigen Jahren bekommen die künstlichen Biegungen der Hauptäste, die offensichtlich von Menschenhand geformt sind, eine natürlichere Form und eine Patina, was den Stil verändert. Bonsai aus Koniferen entschliessen sich manchmal dazu ihre unteren Äste absterben zu lassen. Das Resultat kann eine Änderung im Stil von abstrakt zu mehr natürlich sein.
Ein Künstler kann natürlich in vielen Stilen arbeiten. Es ist durchaus normal, Bäume sowohl im klassischen als auch in zeitgenössischen Stilen von ein und derselben Person zu finden. Anzuführen, dass Kimura viele klassische Bonsai gemacht hat, ist kein Beweis dafür, dass er kein zeitgenössischer Künstler ist. Was am Ende zählt ist der Stil, den die meisten Leute einer Person zuschreiben. Picasso hat in jungen Jahren wunderbare naturalistische Bilder gemalt, aber die Welt kennt ihn wegen seiner abstrakten Werke. Es wäre eine normale Entwicklung für einen Künstler, wenn er in seinem Schaffen mit klassischen Bonsai beginnt dann anfängt mit mehr zeitgenössischen Designs zu experimentieren.
Man könnte behaupten, dass verschiedene Baumarten ihre eigenen Stile haben. Gibt es da nicht so etwas wie einen Buchenstil oder einen Kiefernstil? Lynn Boyd schreibt dazu:26 „Nein, das gibt es nicht, jeder Baum hat eine bestimmte Form und wir gestalten ihn in einer Weise, die mit dieser Form vereinbar ist. Selbst wenn beim Gestalten der Originalform die vorhandene Form vernichtet wird, hatte er doch eine deutlich ‚individualistische’ ‚Baumform’. Entweder gestalten wir ihn in Harmonie mit dieser Form, geben ihm gerade genug Kunst um ihn zu steigern, oder wir drängen ihn in einen ganz eigenwilligen ‚expressiven’ Stil. Beim Impressionismus fügen wir nur Details hinzu, die unsere persönliche Erwiderung auf die Natur des Baumes sind. Beim Expressionismus gehen wir weiter, wir machen aus dem Baum einen viel stärkeren Ausdruck unserer Kunst und weniger von der originalen Rohform des Baumes. Der Stil kann leidenschaftlich expressionistisch sein. Die natürliche Form des Baumes kann zur Inspiration des Künstlers beitragen. Stellt euch vor, wozu euch einige schlimm verformte Yamadori inspirieren können. Das könnte einen reizen, sich damit zu beschäftigen, und öffnet einen breite Variationsmöglichkeiten zum Thema idealer natürlicher Baum. Dann wäre die Inspiration durch einen schön geformten Ahorn möglicherweise von sanfterer künstlerischer Note. Könnte es nicht so wenig sein, wie einfach einen Baum zu topfen und zu beschneiden, nur um ihn zu ‚zeigen’. Es wäre impressionistisch, weil wir es so ‚behaupten’, und er allein durch dieses Tun verändert wurde. Oder erfordert es die Streckung eines Astes, ein Schnitt hier und da, um den Eindruck von Perfektion einer idealen Form zu nahezubringen? Wir können in dem Rohmaterial, das wir wählen, ideale Formen (Urformen) oder geringfügig weniger als die perfekte Form für den Baum haben oder wir können verformtes Rohmaterial von Extremstandorten wählen. Jeder würde als individuelle Baumform inspirieren.“
f)Wozu all diese Haarspalterei?
Ist dies nur eine Diskussion über Worte und Bedeutungen? Warum sollte jemand all diese Vokabeln lernen, wenn wir doch der Meinung sind bereits genug Vokabeln in der Bonsaiwelt zu haben? Das vorgeschlagene Schema zur Klassifikation kann mehreren Zwecken dienen.
Der wichtigste ist, in der Lage zu sein über einen bestimmten Bonsai oder über Bonsai im Allgemeinen auf eine klarere Weise zu kommunizieren. Der Zweck ist hier uns allen eine bedeutungsvollere und vertrautere Sprache zu geben, da wir in eine weltweite Kunstform hineinwachsen. Es ist das gleiche, wie es bei anderen Kunstformen gemacht wurde. Es macht die Kommunikation klarer, aber nicht unbedingt einfacher. Es wird komplexer, weil das alles jetzt beschrieben werden kann. Es war auch vorher schon komplex, aber wir hatten nicht immer die richtigen Worte, die jeder versteht, um zu kommunizieren. An Hand dieses Schemas kannst du z.B. erklären, warum ein bestimmte Bewertungssystem einseitig ist, da nur Bäume eines Stiles dabei Punkte erzielen. Du kannst den Richtern die Augen öffnen und ebenso den Leuten der ‚Insider-Gruppe’, den Meinungsführern, die der Ansicht sind, dass alle Bonsai zu einem allgemeinen Stil gehören oder gehören sollten und das ist der klassische. Du kannst erklären, warum ein Bonsai unter einzelnen Aspekten sehr wenig Punkte bekommt und gleichzeitig sehr viele für die allgemeine Erscheinung.
Die langen Diskussionen im Internet haben gezeigt, das die etablierten Künstler die letzten sein werden, die eine solche Klassifikation annehmen. Sie können stolz auf ihre Leistungen verweisen, die ohne diese ‚unnötige’ Klassifikation zustande gekommen sind. Sie haben vielleicht auch die Angst, den Boden unter dehn Füssen zu verlieren, wenn neue Stile aufkommen und ihre eigenen Kreationen für altmodisch gehalten werden könnten. Mehr Beifall wird von den Künstlern kommen, die bereits zu neuen Ufern aufgebrochen sind, weil sie die Chance sehen mehr anerkannt zu werden. Oder aber, wie Alan Walker beschreibt,27 sie empfinden, dass so eine Klassifikation ihre Werke erniedrigt und trivialisiert, da es der Frische und Einzigartigkeit der Bonsai schadet und sie in ein Gewirr von Regeln stellt.
Der zweite Grund ist, in der Lage zu sein, die eigenen Bäume in einem neuen Licht zu sehen. Man kann sich zum Beispiel die Frage stellen, wie es kommt, dass viele Leute versuchen dich dazu zu überreden deinen Baum umzugestalten, obwohl er dir genauso gefällt, wie er gerade ist. Nun ja, das kommt daher, dass sie ihn unter klassischen, abstrakten und expressionistischen Gesichtspunkten betrachten, also mit ‚klassischen’ Augen. Und du selbst siehst ihn unter zeitgenössischen, naturalistischen und impressionistischen Gesichtspunkten. Also sind das zwei verschiedene Welten, die nicht so leicht zu vergleichen sind. Es ist auch eine Frage des gewohnten Geschmacks. Jetzt kannst du dich zurücklehnen und den Bemerkungen viel entspannter zuhören, denn du weißt, dass nichts ‚falsch’ ist. Es liegt nur am Standpunkt und der hängt davon ab, ob man einen Stil gewohnt ist oder nicht.
Der dritte Grund besteht darin, besser zu wissen, was du wirklich machst, wenn du einen Baum gestaltest. Zum Beispiel nimmst du an, dass es nicht den Regel entspricht einen Ast auf eine Bestimmte Art zu formen. Du wirst es vielleicht ungern tun und dich deshalb schuldig fühlen. Jetzt aber weisst du, dass du versuchst in einer impressionistischen, naturalistischen Weise zu gestalten. Du brichst wirklich keine ‚ewigen’ Regeln – beim zeitgenössischen Design geht es gerade darum, solche Regeln zu brechen! Du würdest das nur tun, wenn du versuchst einen klassischen Baum zu gestalten. Du kannst dir sicher sein, dass die Abkehr vom klassischen Stil dir eine ganz neue Welt eröffnet, aber die Dinge werden dabei nicht einfacher. Du bekommst nichts geschenkt und hast es schwerer als vorher, weil es kaum Richtlinien gibt, die beschrieben sind, aber es gibt welche und die musst du selbst entdecken. Dir sollte auch bewusst sein, dass die Leute deinen Baum mit klassischen Augen beurteilen und ihn wahrscheinlich nicht leiden mögen. Dir sollte noch bewusster sein, dass du das alles für dich selbst machst und nicht für andere. Du wirst genauso bemerken, das du einen Baum auf eine Weise gestaltest, die nicht seiner Art entspricht. Zum Beispiel stellst due fest, dass du einen neo-klassischen (oder klassischen) Bonsai machst, wenn du einen Dreispitzahorn wie eine Kiefer gestaltest.
Der vierte Grund ist, in der Lage zu sein zu den Leuten in einem Workshop, bei einer Baumkritik oder im Internet sprechen zu können. Zusätzlich zu einem Gespräch über die Form, was ihnen meistens noch vertraut ist, kann man über den Stil des Baumes sprechen, was den Leuten meist nicht mehr bewusst ist. Wen jemand danach fragt, welchen Ast er abschneiden soll und wie er die Krone formen soll, kann man erklären, dass das erst einmal eine Frage des Stils ist. Zuerst kommt der Stil und entscheidet über die Richtlinien, nach denen der Baum gestaltet wird. Man kann sagen, dass es nicht immer nötig ist auf klassische Art zu gestalten. Man kann auch sagen, dass es einen grossen Unterschied gibt zwischen einem naturalistischen Stil, der einen bestimmten Design folgt mit vielen unbeschriebenen und einigen beschriebenen Regeln und einem amateurhaften Bonsai, der einfach nicht gut gestaltet ist. Dies hilft den Leuten weiter als ihnen einfach zu erzählen: „Schneid diesen Ast ab und gut.“
Der fünfte Grund ist, in der Lage zu sein einige Phänomene in Sachen Bonsai zu erklären. Eins davon ist, dass viele Bonsaienthusiasten ein grosses Problem mit zeitgenössischen Bonsai haben. Entweder sind sie ihnen zu abstrakt oder zu naturalistisch, da sie nicht wie ein (klassischer oder klassizistischer) Bonsai aussehen. Nun kann erklärt werden, warum es nicht einmal weiterhilft, die Existenz dieser extremen Bäume mit Fotografien zu belegen. Ein anderes Phänomen ist die Tatsache, dass eine ganze Menge zeitgenössischer Bonsaienthusiasten wenig oder gar nicht mit Laubbäumen arbeiten. Man kann jetzt erklären, dass der Umstand, dass diese sich nicht zu solch extremen Abstraktionen eignen wie die Koniferen, dies bedingt. Extreme Abstraktion wird als ‚Kunst’ betrachtet, während extremer Naturalismus mehr als ein gärtnerisches Resultat erscheint. Die grossen Schwierigkeiten und die lange Zeit bei der Schaffung eines aussergewöhnlichen naturalistischen Baumes ist nicht sofort sichtbar, während die künstlerische Note bei der Schaffung eines abstrakten Kunststückes sofort zu sehen ist, besonders dann, wenn es innerhalb von ein paar Stunden auf der Bühne entsteht.
Der sechste Grund besteht in der Hoffnung, den Boden für ein wenig mehr Toleranz zu bereiten. Allein durch das Akzeptieren, dass es mehrere verschiedene Stile gibt, kann man auch in der Lage sein zu akzeptieren, das alle diese Stil zur Bonsaikunst gehören, aber nicht unbedingt auch jedermanns Geschmack sind. Colin Lewis sieht da eine Parallele bei der Beurteilung von Malerei:28 „Es gibt Kunstbegeisterte, die zum Beispiel klassische Landschaften von Malern wie Gainsborough und Constable bevorzugen. Andere finden ihr Vergnügen bei den impressionistischen Arbeiten von Cezanne oder vielleicht Monet. Wieder andere haben eine vorliebe für abstrakte, sinnlos erscheinende Pollocks. Aber keiner von ihnen würde die Vorlieben der anderen beschuldigen, keine Kunst zu sein oder gar keine Malerei. Solche Beschuldigungen können nur von Leuten kommen, die Kunst nicht richtig verstehen – keinerlei Kunst.“ Es ist vollkommen akzeptabel, nicht jeden Bonsaistil zu mögen, aber man kann nicht sagen, dass Bäume eines bestimmten Stiles ‚keine Bonsai’ oder ‚keine Kunst’ sind. Der Ausschluss neuer Richtungen ist ein Zeichen von Unsicherheit bei den Leuten, die diesen Ausschluss betreiben.
Was dieser Vorschlag nicht sein soll:
Die hier vorgeschlagene Klassifikation ist nicht so revolutionär, wie es auf den ersten Blich erscheinen mag. Die traditionellen bekannten Stile werden jetzt Formen genannt. Sie sind alle noch da und bleiben auch so, wie die Bonsaienthusiasten sie kennen. (Ein paar sind dazugekommen, wo sie von der Logik her passen.) Ihre Beschreibung oder ihre Regeln, die eigentlich eher Richtlinien sein sollten, bleiben im klassischen / neo-klassischen Stil dieselben. Wie auch immer, genau die gleichen Formen können vom Prinzip her im zeitgenössischen Stil benutzt werden, aber unter einem anderen allgemeinen Blickwinkel. Der Unterschied im Aussehen entsteht durch die Anwendung verschiedener (unbeschriebener) Regeln für die gleiche Form.
Diese vorgeschlagene Klassifikation ist nicht dazu gedacht, direkt nach ihr Bäume zu bewerten, aber sie kann dafür genutzt werden. Man kann sagen, ein Baum hat diesen oder jenen Stil und diese oder jene Form. Aber das sagt noch nichts über deine Beurteilung aus und sollte es auch nicht. Man kann seine Beurteilung sicher noch hinzufügen und erzählen, was einem gefällt und was nicht. Mit dieser neuen Klassifikation kann man das klarer ausdrücken. Man kann einen Baum unter Verweis auf dieses Klassifikationsschema auf viel neutralere Weise kritisieren.
Das Schema sollte nicht dafür benutzt werden um einem bestimmten Stil oder einer Form genau zu folgen, in der Hoffnung dadurch einen ‚guten’ Bonsai zu erhalten. Es war noch nie gut nur Regeln zu folgen. Diese Klassifikation ist für einen Künstler vielleicht ein Weg um anzufangen, um die Stile und Regeln zu verstehen und um sie dann wieder zu vergessen und zu machen, was ihm gefällt. Für den Anfänger und den Unsicheren mag sie eine Zuflucht sein, eine Vorgabe, um sich daran festzuhalten damit man nichts falsch macht. Während das am Anfang natürlich sehr hilfreich sein kann, ist es aber nicht der Weg, um Kunst oder auch nur gutes Handwerk zu machen.
Dies ist kein Versuch die Art, in der Bonsai praktiziert wird, zu ändern. Es dient nur dazu zu beschreiben, was bereits geschieht und in Zukunft geschehen wird. Es sollte einen besseren Weg der Kommunikation über das was vor sich geht ermöglichen. Wie Andy Rudledge29 bemerkte, sehen die meisten Enthusiasten Bonsai hauptsächlich als künstlerisches Schaffen und möchten, dass ihre Bäume auch einige künstlerische Ziele erreichen, und dass sie dann auch dementsprechend beurteilt werden. Andere sehen in Bonsai eine Tradition, die auch auf traditionelle Art weiterzuführen ist, während wieder andere Bonsai hauptsächlich als gärtnerisches Schaffen sehen, mit wenig oder gar keiner Loyalität zu dem, was einige für die ‚universell geltenden’ Regeln zur Gestaltung der Bäume halten. Jede dieser Auffassungen ist für die jeweiligen Befürworter gültig und für den grössten Teil dieser Diskussion sind sie ohnehin unwichtig. Dieser Vorschlag ist nicht dafür gedacht ihnen zu erzählen, was sie tun sollen. Er ist nur dafür da, denen, die es möchten, bessere Kommunikationsmittel anzubieten.
Dieses angebotene Klassifikationsschema ist nicht unbedingt für jeden etwas. Aber selbst für Anfänger und fortgeschrittene Bonsaienthusiasten kann es hilfreich sein, etwas über andere Stile als den klassischen zu wissen. Selbst wenn man sich entschieden hat in einem bestimmten Stil zu arbeiten, kann es hilfreich sein Bücher, Magazine, Ausstellungen und virtuelle Gallerien in einem anderen Licht zu betrachten. Zu lernen etwas zu klassifizieren liegt in der Natur dieser Sache und gehört zur Ausbildung.
Während der intensiven Diskussionen über dieses Thema im Internet Bonsai Club30 sagten einige: „Ich glaube, dass Zeit und Mühe beim Lernen des Handwerks und Verbessern der Kunst besserverwendet werden“ Oder: „.... Was hat diese Zeitverschwendung zum Festnageln auf bestimmte neue oder ‚bessere’ Sprache oder Begriffstandards mit der Arbeit an den Bäumen zu tun? Nichts...“ Die beste Antwort darauf kam von Rick Chaote: „Ja, aber was ist mit denen, die beides gleichzeitig machen können?“
Diese Begriffe, so neu sie vielen Bonsaienthusiasten zu sein scheinen, sind keine Erfindung des Autors. Sie sind bis zu einem gewissen Grad zwischen den Künsten übertragbar. Je bekannter und universeller wir unsere Konzepte zu Stil und Form usw. halten, desto mehr Möglichkeiten haben wir zu Kommunizieren.
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